Ausgleich der kalten Progression taugt nicht als Entlastungsmaßnahme

Die kalte Progression ist ein Problem. Denn bei Gehaltserhöhungen profitiert der Fiskus über höhere Steuern - während höhere Abgaben und die Inflation das Lohnplus bei den Beschäftigten wieder auffressen. Bundesfinanzminister Christian Lindner ist das ein Dorn im Auge. Ab kommendem Jahr will der FDP-Politiker bei der Einkommensteuer daher nachbessern. Doch angesichts der Haushaltslage und der fehlenden Entlastungswirkung bei einkommensschwächeren Haushalten ist der Ansatz nicht überzeugend, schreibt der Wirtschaftsweise Prof. Achim Truger im Gastbeitrag.
Seit Beginn der Ampel-Koalition gab es kaum steuerpolitische Impulse aus der Bundesregierung. Weil sich die Koalitionsparteien angesichts völlig unterschiedlicher Vorstellungen von Rot-Grün auf der einen und FDP auf der anderen Seite weder auf generelle Steuersenkungen noch auf Steuererhöhungen einigen konnten, blieb das Thema im Koalitionsvertrag weitgehend ausgeklammert. Doch bald schon wird die steuerpolitische Debatte wieder in Schwung kommen: FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner möchte gerne Steuerentlastungen bei der Einkommensteuer durchsetzen und begründet dies mit dem Ausgleich der sogenannten kalten Progression.
Bei der kalten Progression geht es tatsächlich um ein ernstzunehmendes Problem: Der Tarif der Einkommensteuer ist progressiv, d.h. der Durchschnittssteuersatz steigt mit steigendem Einkommen an. Dies ist auch erwünscht: Starke Schultern tragen mehr als schwache. Das Problem ist aber, dass der Einkommensteuertarif sich auf das nominale, d.h. das nicht inflationsbereinigte Einkommen bezieht. Das führt dazu, dass die prozentuale Steuerbelastung bei nominalen Einkommenssteigerungen auch dann zunimmt, wenn diese lediglich die Inflation ausgleichen: Die reale Steuerlast steigt, obwohl das Realeinkommen konstant geblieben ist. Eine Möglichkeit, dies zu verhindern, bestünde darin, den Tarif „auf Räder zu stellen“, d.h. jährlich um die Inflation zu bereinigen.
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In der Realität der letzten Jahrzehnte war dies allerdings eigentlich nicht notwendig, weil die Einkommensteuertarife aufgrund von Steuerreformen ohnehin immer wieder gesenkt wurden, sodass die kalte Progression sogar überausgeglichen wurde. Trotzdem hat sich der Gesetzgeber 2012 entschieden, dass die Bundesregierung alle zwei Jahre einen Bericht über die Auswirkungen der kalten Progression erstellen muss, auf dessen Basis dann der Bundestag entscheidet, ob es einen und ggf. welchen Ausgleich es gibt. Bislang wurde die kalte Progression dabei in etwa ausgeglichen. Allerdings hat die Inflation jüngst extrem stark angezogen. Dies wird im nach der Sommerpause anstehenden nächsten Progressionsbericht festgestellt werden, und spätestens dann wird Christian Lindner entsprechende Entlastungsforderungen erheben.
Kalte Progression: Bundestag muss alle zwei Jahre entscheiden
Es gibt aber keineswegs einen Zwang zum Ausgleich der festgestellten kalten Progression. Dafür hätte schon direkt der „Tarif auf Rädern“ ins Steuergesetz geschrieben werden müssen. Da dies nicht geschah, muss der Bundestag alle zwei Jahre über den gewünschten Einkommensteuertarif diskutieren und entscheiden. Wer also einen Ausgleich der kalten Progression möchte, wird dafür dann gute Argumente bringen müssen. Die bislang vorgebrachten Argumente sind jedoch wenig überzeugend oder widersprüchlich.
Erstens wird häufig argumentiert, der Abbau der kalten Progression sei notwendig, damit der Staat sich nicht an der Inflation bereichere. Dabei ist gar nicht so klar, ob der Staatshaushalt durch die Inflation tatsächlich so stark entlastet wird. Auch der Staat hat nun bei vielen Gütern und Dienstleistungen höhere Aufwendungen. Zudem hat die höhere Inflation bereits zur Zinswende geführt, so dass mit kräftig steigenden Zinskosten zu rechnen ist.
Zwar profitiert der Staat grundsätzlich über die Mehrwertsteuer von steigenden Preisen, das gilt aber nicht, wenn wegen der höheren Preise oder der sich abzeichnenden Konjunktureintrübung der private Konsum schwächelt. Schließlich wird der einnahmensteigernde Effekt der kalten Progression derzeit dadurch begrenzt, dass die Löhne deutlich hinter der Inflation zurückbleiben, so dass ein vollständiger Inflationsausgleich bei der Einkommensteuer den Staat deutlich mehr kosten würde, als er über die kalte Progression einnimmt.
Kalte Progression: Steuerentlastung passt nicht zur Haushaltslage
Zweitens passen die angestrebten Steuerentlastungen nicht zur Haushaltslage und den finanzpolitischen Herausforderungen. Ein vollständiger Ausgleich der kalten Progression für 2022 würde voraussichtlich dauerhaft mindestens zwölf Milliarden Euro im Jahr kosten. Wenn man – wie Christian Lindner – auf der unbedingten Rückkehr zur Schuldenbremse im Jahr 2023 besteht und deswegen den Haushalt bereits auf Kante genäht hat, sollte man sich die Einhaltung der Schuldenbremse nicht noch durch teure Steuersenkungen erschweren. Dies gilt umso mehr angesichts der wegen des Ukraine-Kriegs und der notwendigen beschleunigten Energiewende nochmals gestiegenen finanzpolitischen Bedarfe auf der Ausgabenseite.
Kalte Progression: Die Falschen würden entlastet
Drittens schließlich würden durch den – fiskalisch teuren – Ausgleich der kalten Progression derzeit genau die Falschen entlastet. Anders als häufig behauptet profitieren vom Inflationsausgleich bei der Einkommensteuer vor allem die Wohlhabenden: Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung käme er zu zwei Dritteln den reichsten 20 Prozent der privaten Haushalte zugute, fast die Hälfte der Entlastung ginge sogar an die reichsten zehn Prozent. Die untersten 30 Prozent in der Einkommensverteilung gingen dagegen fast vollständig leer aus, weil sie mangels Einkommen so gut wie keine Einkommensteuer zahlen.
Dabei sind es ausgerechnet die untersten 20 Prozent der Haushalte, die aktuell aufgrund des drastischen Inflationsanstiegs durch Energie- und Nahrungsmittelpreise trotz der kräftigen Entlastungspakete der Bundesregierung am stärksten leiden, während die oberen zehn Prozent netto nur noch gering belastet werden. Es besteht also durchaus ein Bedarf für weitere Entlastungen. Dieser Bedarf besteht jedoch genau bei den ärmsten Haushalten, die durch den Ausgleich der kalten Progression gar nicht erreicht werden. Eine sinnvolle gezielte Entlastung müsste daher völlig anders aussehen.
Der Ausgleich der kalten Progression taugt nicht als Entlastungsmaßnahme: Er wäre fiskalisch teuer, würde die Einhaltung der Schuldenbremse erschweren und diejenigen Menschen in Deutschland, die unter den hohen Energiepreisen besonders leiden, überhaupt nicht erreichen.
Zur Person: Prof. Achim Truger ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Professor für Staatstätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen.