Dreijährige wiegt 80 Kilo: Mädchen leidet an seltenem Gendefekt - Verein sammelt Spenden

Aylin sitzt im Wohnzimmer auf dem Teppichboden, vor sich zwei riesige Haufen aus Plüschtieren und Spielzeugautos. Im Fernseher laufen türkische Musikvideos. „Nur eine halbe Stunde“, sagt Vater Hulusi Gümüs und zuckt mit den Schultern. Er weiß, dass eine Dreijährige nicht vor den Fernseher gehört. Normalerweise. Doch im Leben von Familie Gümüs aus Maintal-Dörnigheim gibt es keine Normalität.
Maintal – Aylin, die Tochter von Hulusi und Ayse Gümüs, leidet an einem seltenen Gendefekt, der zu einer massiven Gewichtszunahme führt. Etwa 15 Kilo wiegen dreijährige Mädchen durchschnittlich. Aylin wiegt 80 Kilo. Und sie nimmt weiter zu. „Unser Leben ist schlimm“, sagt Vater Hulusi und blickt zu den drei Collagen an der Wand über dem Sofa. Sie zeigen Fotos der drei Kinder, aufgenommen kurz nach der Geburt. Sohn Yigit, heute neun Jahre, Nesthäkchen Elisa, 12 Monate alt. Und Aylin. „Sechs Jahre habe ich auf sie gewartet“, sagt er und lächelt.
Aylin kommt am 30. August 2018 zur Welt. Ein ganz normales Baby, sagt der Vater. Auch in der Schwangerschaft habe es keine Auffälligkeiten gegeben. Doch bald merken die Eltern, dass etwas nicht stimmt. Obwohl Aylin ausschließlich gestillt wird, nimmt sie rasant zu. Zwei bis drei Kilo sind es pro Woche. Mit sechs Monaten wiegt sie 15 Kilo, an ihrem ersten Geburtstag 40 Kilo.
Eltern rennen von Arzt zu Arzt
Die Kinderärztin ist ratlos, überweist das Mädchen an die Kinderklinik in Gelnhausen. Doch auch hier finden die Mediziner keine medizinische Erklärung für das extreme Übergewicht. Stattdessen geraten die Eltern ins Visier. „Alle sagten, wir sind schuld. Wir würden unser Kind falsch ernähren“, erzählt der Vater. Immer wieder müssen sich die Eltern gegen die Anschuldigungen zur Wehr setzen. Immer wieder beteuern sie, ihre Tochter nicht vollzustopfen. Niemand glaubt ihnen. In seiner Verzweiflung kauft Hulusi Gümüs Überwachungskameras. Er hängt sie ins Wohnzimmer und filmt seine Tochter, die hier fast den ganzen Tag sitzt. Damit er es allen beweisen kann, sagt der 43-Jährige.
Für die Familie beginnt eine Odyssee von Klinik zu Klinik. Bald steht fest, dass Aylin kognitiv und motorisch entwicklungsverzögert ist. Sie spricht nur wenige Worte, kann nicht krabbeln, sich nicht allein aufrichten, nicht laufen. Und sie schreit, jeden Tag drei, vier Stunden, bis sie vor Anstrengung kollabiert. Immer wieder rufen Nachbarn die Polizei, erzählt der Vater. Manchmal hilft der Fernseher. Manchmal nur warten, bis es endlich vorbei ist.
Familie aus Maintal wird ausgegrenzt
Anderthalb Jahre vergehen, bis die Ärzte des Universitätsklinikums Ulm schließlich eine Diagnose stellen. Sie nennen keine Krankheit, nur ein sperriges Wort: Melanocortinrezeptor-4-Mangel. Dieser verhindert, dass dem Gehirn ein Sättigungsgefühl gesendet wird. Betroffene leiden unter einem ständigen, extremen Hungergefühl und einer daraus resultierenden schweren Adipositas. Bei Aylin stellen die Ärzte noch eine Fettleber, einen Herzklappenfehler sowie einen permanenten Insulinüberschuss fest. Eine Chance auf Heilung gibt es nicht, nur Gewissheit für Aylins Eltern: Sie trifft keine Schuld.
An ihrem Leid ändert die Diagnose nichts. „Die Leute zeigen mit dem Finger auf uns. Obwohl sie im Rollstuhl sitzt. Sie sehen doch, dass sie krank ist“, sagt der Vater aufgebracht. Einmal filmen die Nachbarn vom Fenster aus, als er mit Aylin auf dem Spielplatz ist. „Was sind das für Menschen?“, fragt er.
Wohnsituation verschärft die dramatische Lage
In den eigenen vier Wänden ist es nicht besser. Aktuell lebt die fünfköpfige Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses. Jedes Mal, wenn Aylin das Haus verlassen muss, trägt Vater Hulusi seine 80 Kilo schwere Tochter allein die Treppe hinunter und anschließend wieder hoch, hievt sie ins Auto, und wieder hinaus. Physiotherapie, Arzttermine, allein letzte Woche siebenmal.
Spendenkonto für Aylin
Aylins Familie sucht dringend eine Vier-Zimmer-Wohnung im Bereich Maintal, Bruchköbel oder Hanau-Wolfgang. Die Wohnung sollte im Erdgeschoss liegen oder über einen Aufzug verfügen und idealerweise ein barrierefreies Badezimmer haben. Vermieter wenden sich bitte an den Verein „Hand-in-Hand“ in Altenstadt, Telefon: 06047 986836, oder per Mail an kontakt@hand-in-hand.it.
Außerdem hat der Verein ein Spendenkonto eingerichtet, um der Familie ein behindertengerechtes Fahrzeug kaufen zu können. Das Spendenkonto lautet: Sparkasse Oberhessen, Konto-Inhaber: Hand-in-Hand e.V., IBAN: DE06 5185 0079 1244 0910 20, Verwendungszweck: Aylin
Auch die Körperpflege ist ein Kraftakt. Einmal am Tag müssen die Eltern Aylin im engen Bad duschen, um die Hautfalten zu reinigen, den Körper eincremen. Eine Prozedur, die fast eine Stunde dauert. Vier Bandscheibenvorfälle hat Hulusi Gümüs, Arm, Hand und Bein seiner rechten Körperhälfte zeigen bereits Ausfallserscheinungen. Die Ärzte wollen ihn operieren. Doch wer kümmert sich um Aylin? „Ich muss weitermachen“, sagt Hulusi Gümüs. Mittlerweile hat er seinen Job verloren. Zu heftig sind die Schmerzen, zu oft hat er gefehlt. Seine Tochter in ein Heim zu geben, komme trotzdem nicht infrage. „Es ist alles sehr schlimm. Aber Aylin ist mein Herz.“
Verein sucht behindertengerechte Wohnung
Helfen würde eine behindertengerechte Vier-Zimmer-Wohnung. Seit drei Jahren sucht der Vater. Ohne Erfolg. Unterstützung bekommt die Familie von Necdet Kalipcioglu, Stadtverordneter und Vorsitzender des Sozialausschusses der Stadt Maintal. Er kennt die Familie von seiner Arbeit in der Apotheke. „Die Stadtverwaltung bemüht sich. Aber es gibt einfach wenig Wohnraum. Und die Familie braucht einfach ein Angebot, das zu ihren Bedürfnissen passt.“
Kalipcioglu schaltet den Verein „Hand-in-Hand“ ein, der schwerst- und krebskranke Kinder und deren Familien unterstützt. Schlimme Krankheiten sehe er immer wieder, sagt Sven Schöning. „Aber Aylins Fall ist auch für uns sehr speziell.“ Fest stehe, dass der Familie schnellstmöglich geholfen werden müsse: „Die Wohnsituation ist für die gesamte Familie untragbar.“ Außerdem sammelt der Verein Spenden zur Anschaffung eines behindertengerechten Fahrzeugs. „Wir hoffen wirklich, dass viele Menschen helfen. Diese Familie hat schon genug durchgemacht“, so Schöning.
Mädchen braucht ein Leben lang Spezialnahrung
Ob Aylin jemals ein annähernd normales Leben führen kann, ist fraglich. Sie bekommt eine spezielle Diätnahrung, ab und zu einen Joghurt mit 0,1 Prozent Fett, einmal pro Woche eine Brezel. Vielleicht könne sie durch Physiotherapie irgendwann laufen, sagen die Ärzte. Weitere Prognosen gibt es nicht. Manchmal, wenn das Wetter schön ist und die Kraft reicht, fährt der Vater mit allen drei Kindern in den Garten der Familie. Ein großes Holzhaus aus Paletten hat er ihnen gebaut. Oft genug aber bleiben sie in der Wohnung, geschützt vor den Blicken, selbst im Sommer. „Wir sind fünf Personen, die ohne Schuld im Gefängnis sitzen“, sagt er.
Von Kristina Bräutigam
Auch der dreijährige Marten aus Dreieich im Kreis Offenbach leidet an der seltenen Krankheit namens Syngap-Syndrom. Seine Mutter Vanessa Bauch will den Gendefekt ins Bewusstsein rücken, um anderen Familien ebenfalls helfen zu können. Oftmals erkennen Ärzte die Symptome nämlich nicht.