Nach Messertacke gegen Vater: Tochter in Psychiatrie

Langenselbold. Sie hat versucht ihren Vater zu erstechen, doch er konnte den Angriff in letzter Sekunde abwehren und wurde nur leicht verletzt: Für diese Tat muss eine 23-Jährige aus Langenselbold nun in die Psychiatrie. Ihr Vater hält trotzdem weiter zu ihr.
Von Dieter A. Graber
Am Morgen des 2. Mai wollte Almedina H. ihren Vater umbringen. Sie schlich ins Schlafzimmer, wo er im Bett lag, nahm ein Küchenmesser, das sie hinter dem Rücken verborgen hatte, in beide Hände hoch über den Kopf und versuchte, ihn zu erstechen. Er konnte den Angriff in letzter Sekunde abwehren. Er trug nur eine unbedeutende Verletzung am Arm davon. Warum hasste sie ihn so sehr, dass sie ihn töten wollte?
Die Frage spielt nur am Rande dieses Prozesses eine Rolle. Sie wird nicht beantwortet. Sie mag juristisch belanglos sein, denn Almedina H. ist psychisch krank. Eine „drogenindizierte Psychose“. Und doch drängt sie sich auf, die Frage, wenn die Beteiligten dieser traurigen Geschichte erzählen, und am Ende, wenn Almedina H. vom Vorwurf des versuchten Totschlags freigesprochen und in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen wird, stellt sich eine andere: Wie konnte das alles nur so weit kommen?
Fleißige Leute in bescheidenen Verhältnissen„Ich war ein schwieriges Kind“, sagt die junge Frau auf der Anklagebank. Sie ist jetzt 23 Jahre, hat ihr dunkles Haar zu einem lustigen Gebilde hochgesteckt und unterstreicht ihre Sätze bisweilen mit einem einnehmenden Lachen. Sie ist intelligent und vermag sich sehr gut auszudrücken, flüssig und strukturiert.Ihre Eltern stammen aus Bosnien, waren vor 20 Jahren im Zuge der Jugoslawienkriege nach Deutschland gekommen. Fleißige Leute in bescheidenen Verhältnissen; die Mutter arbeitet als Putzfrau, der Vater in der Sicherheitsbranche. Die begabte Tochter schafft es in Frankfurt, wo sie zuerst leben, aufs Gymnasium. Später bringen sie es zu einem netten Reihenhaus in Langenselbold. Da scheint ein Flüchtlingsmärchen wahr geworden zu sein.Mädchen vernachlässigt SchuleEin „schwieriges Kind“ also. Almedina H. beschreibt die Beziehung zu ihrem Vater als gut, aber nicht sehr intensiv. Vielleicht ließ er es an Aufmerksamkeit mangeln. An Interesse für die Tochter. Mustafa H. arbeitet im Schichtdienst an wechselnden Einsatzorten und hat noch einen älteren Sohn. Die Mutter muss in aller Herrgottsfrühe raus. Sie ist selbständig.Da bleibt wenig Zeit für Extra-Zuwendungen. Das Mädchen vernachlässigt die Schule. Treibt sich rum. Schaufensterbummel, McDonald’s, Klamotten anprobieren mit Freundinnen. Die Eltern schicken sie, nunmehr 14-jährig, zu Verwandten in die alte Heimat, in ein Dorf nahe Tuzla. „Was haben Sie denn da gemacht?“ fragt Richter Graßmück. „Nichts“, antwortet sie fröhlich, „da ist nämlich absolut nichts los.“ Es war eine Erziehungsmaßnahme. Oder eine Strafe. Wie auch immer: Es fruchtete nicht!
Schiffbruch in der RealschuleNach einem Jahr zurück, versucht sie’s auf der Realschule, erleidet Schiffbruch, wendet sich dem Cannabis zu. „Ein Gramm am Tag“, sagt sie, „das aber jeden Tag.“ Kiffen wird ihr Lebensinhalt. Das Scheitern auch: Abendschule, Aushilfsjobs wie Kellnern in einer Shisha-Bar, eine Partnerbeziehung – alles wirft sie, antriebsarm und desinteressiert, schnell wieder hin. Es ist ein Leben der Extreme, das sie da führt. Rausch und Langeweile. Und dann tauchen diese Stimmen auf in ihrem Kopf – vermutlich eine Folge des exzessiven Drogenkonsums. Laut einer Studie der Universität Maastricht kann kiffen Schizophrenie auslösen.Mustafa H. redet schnell, viel und laut. Er ist ein untersetzter Mann, 48 Jahre. Ein verzweifelter Mann. „Ich wünsche niemandem, an unserer Stelle zu sein“, sagt er. Ein Suizidversuch der Tochter, ihr kurzer Klinikaufenthalt, ihre Ausraster, ihre Veränderungen. „Schließlich legte sie keinen Wert mehr auf ihr Äußeres, lief abwesend durchs Haus, ungepflegt, mit wirrem Haar.“ Dann schaut er zu ihr hinüber, zur Anklagebank, und erklärt: „Aber du bist mein Kind, ich werde immer zu dir halten.“ Doch da ist nichts Zärtliches in seinen Worten, eher Verzweiflung, Unverständnis. Almedina H. bricht in Tränen aus.
Religion bietet HaltDiese Stimmen. Am Tattag waren sie wieder da. „Sie haben es mir befohlen“, sagt sie. „Andernfalls käme ich in die Hölle.“ Sie holte ein Messer mit einer zwanzig Zentimeter langen Klinge aus der Küchenschublade. Sie nahm zwei Anläufe, war zweimal bei ihm im Schlafzimmer. Sie wollte es nicht tun. Aber schließlich gehorchte sie dem Befehl in ihrem Kopf. Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Warum der Vater? Sie weiß es nicht.Almedina H. befindet sich jetzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina. Es gefällt ihr dort. Die Stimmen sind weg. Sie wurde strenggläubige Moslemin. Sie betet fünf Mal am Tag und lernt Arabisch, um den Koran im Original lesen zu können. „Ich bin nicht am Diesseits interessiert“, betont sie, „sondern am Jenseits.“ Kiffen will sie nie mehr. Ihre neue Droge ist jetzt die Religion.