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Ein Jahr Ukraine-Krieg – wie ist die Stimmung in Putins Russland? „Panikattacken“, Ruin und „alles beim Alten“

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Von: Bona Hyun

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Das Leben in Russland ist geprägt von Angst und Hoffnungslosigkeit. Russische Bürger geben im Gespräch mit IPPEN.MEDIA Einblicke.

Moskau/Kiew – Am Freitag (24. Februar) jährt sich der Tag, an dem Russland die Ukraine angriff. Der Krieg und die Folgen, wie Sanktionen, haben das Leben auch für die Menschen in Russland dramatisch verändert. Ungewissheit und Angst gehören für viele zum Alltag. Gleichzeitig wächst teils auch Zorn gegenüber der Regierung.

Doch nicht alle sind dermaßen betroffen. Einige können ihrem Leben gewohnt nachgehen und wollen auch Russland nicht verlassen. IPPEN.MEDIA hat in Gesprächen mit Russinnen und Russen Eindrücke gesammelt.

Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj und Kreml-Chef Wladimir Putin
Ein Jahr Ukraine-Krieg hat das Leben in Kiew und in Russland verändert. In Russland wächst vor allem die Angst vor der Regierung und der Ungewissheit. © Sergey Dolzhenko/ Kirill Kudryavtsev / Pool/Olivier Matthys/dpa (Montage)

Ein Jahr Krieg in der Ukraine – Bürger erzählen über das Leben in Russland

Bereits ein Jahr begleitet der Krieg die Bürger in Russland, wo statt Krieg die Rede von einer „Spezial-Operation“ ist. Für viele der Befragten hat sich das Leben seit dem Ukraine-Krieg zum Negativen gewendet, mit Auswirkungen auf die mentale Gesundheit. Sicher oder wohl fühlen sich so einige nicht mehr – stattdessen sind sie „ängstlich und paranoid“ oder „besorgt“. „Seit Kriegsbeginn bin ich in zwei depressive Episoden verfallen, von denen ich mich derzeit in einer befinde“, sagte Kirill, ein Ingenieur aus Nischni Nowgorod. Andere russische Bürger beklagen „Schlafprobleme“ und „Panikattacken“. „Meine Gefühlslage schwankt unkontrollierbar“, sagt Ksenia, eine Selbstständige aus Sankt Petersburg.

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Sorge um Macht des Staates, „weil man jederzeit weggebracht werden könnte“

Ganz deutlich wird auch die Angst vor dem russischen Staat. Die Bürger wissen, dass sie gegenüber der Regierung machtlos sind. „Wenn der Staat beschließt, uns loszuwerden, dann wird er das tun“, sagten zwei Menschenrechtsaktivisten aus Russland. Der Druck auf die Zivilgesellschaft sei größer geworden.

Auch Bedenken wegen der Mobilisierung gibt es, „weil man jederzeit weggebracht werden könnte“, wie Aleksandr, ein 27-jähriger Unternehmer aus Sankt Petersburg sagte. Neben der Angst wächst aber auch Zorn auf Kreml-Chef Wladimir Putin. „Ich verstehe nicht, warum unsere Regierung ein so schönes Land ruiniert, wie es hätte sein können“, sagte Unternehmerin Anna (28) aus Moskau.

Folgen des Ukraine-Kriegs: EU-Sanktionen kosten Bürger in Russland ihren Job

Große Umstellungen in Russland gingen für viele auch mit den EU-Sanktionen einher. Die EU hat seit Kriegsbeginn mehrere Strafmaßnahmen gegen Russland erlassen. Diese lasten auf Schultern der Bürger, zumindest entstand dieser Eindruck bei den meisten Befragten. Unternehmerin Anna traf es zum Beispiel sehr hart, denn die Sanktionen kosteten sie den Job: Sie musste ihre Marketingagentur auflösen, weil sie mit ausländischen Marken arbeitete. Ihre Kunden hätten ihre Geschäfte in andere Länder verlegt. Generell seien viele Unternehmen seit Kriegsbeginn weggegangen, bestätigte der Angestellte Denis aus Chabarowsk.

Eine Logistik-Managerin aus Sankt Petersburg nimmt besonders den „spürbaren Preisanstieg“ wahr sowie die „Ersetzung vertrauter Produkte durch andere Hersteller, bei denen die Qualität und der gewohnte Geschmack leidet“. Auch fehle „die Möglichkeit, etwas mit einer russischen Kreditkarte zu bestellen oder zu bezahlen.“ Zudem sei es schwierig, ein Visum zu bekommen, sagte Lehrerin Maria. „Die internationale Gemeinschaft muss verstehen, dass sie Sanktionen nicht gegen Putin und seine Entourage verabschieden, sondern gegen die Bürger und Bürgerinnen in Russland“, so die Menschenrechtsaktivisten.

Andere spüren die Sanktionen wenig in ihrem Alltag. Aleksandr merkt Änderungen bei technischen Zugängen zu Diensten oder sozialen Medien. Diese seien jetzt nur über VPN zugänglich. „Ansonsten bleibt alles beim Alten“, urteilte der 28-jährige Unternehmer aus Sankt Petersburg.

Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg: Russen denken übers Auswandern nach

Welche Optionen bleiben den Menschen, wenn sich ihr Leben in Russland nicht aushalten lässt? Viele der Befragten überlegen, Russland angesichts der aktuellen Situation zu verlassen – auch wenn sie ihre Heimat lieben. „Früher wollte ich das nicht, aber jetzt hat sich dieser Wunsch geändert“, sagte Ksenia, die in der jetzigen „Atmosphäre“ nicht mehr in Russland bleiben möchte. Kirill würde mitgehen. „Entscheidungen dieser Regierung zwingen mich, in ein anderes Land auszuwandern“, so Kirill.

Doch nicht alle wollen gehen. Für Denis kommt es nicht infrage, Russland zu verlassen. „Jetzt kommt mir manchmal der Gedanke, wegzugehen. Aber trotzdem, lieber nicht.“ „Wenn ich umziehe, dann für einige Jahre, um Berufserfahrung zu sammeln“, so Maria. Auch die Menschenrechtler wollen in Russland bleiben und arbeiten. „Aber es wäre gut zu wissen, dass wir die Möglichkeit haben, nach Europa reisen zu können, im Falle einer akuten Gefahr“. Sie hoffen, in solch einem Fall, unter anderem in Deutschland aufgenommen zu werden.

Wann endet der Ukraine-Krieg? Die Angst vor der Ungewissheit macht sich breit

Seit Februar 2022 steht die Frage im Raum, wann ein Ende des Kriegs kommen wird. Eine Antwort darauf scheint immer ungreifbarer zu werden. Die Ungewissheit ist offenbar oftmals beunruhigend für russische Bürger. „Es ist sehr beängstigend zu sehen, was in der Welt passiert und es ist nicht klar, was als Nächstes passieren wird“, sagte Rentnerin Vasilisa. „Bestimmte Zukunftspläne sind zusammengebrochen und das Leben scheint auf Eis gelegt zu sein“, ergänzte Ksenia.

Die Zukunft erscheint perspektivlos für einige der Befragten. Es besteht die Sorge, dass sich in Russland gar nichts zum Positiven ändern wird. „Jetzt verstehen wir, dass wir keinerlei Einfluss auf die Entwicklung haben. Deswegen können wir nicht langfristig planen und müssen in den Tag hinein leben und kurzfristig Entscheidungen treffen“, sagten die russischen Menschenrechtsaktivisten.

Es bleibt zu hoffen, dass für alle Kriegsbeteiligten die Rückkehr zur Normalität zeitnah sein wird. (bohy)

Redaktioneller Hinweis: Angegebene Namen wurden auf Wunsch der Befragten von der Redaktion geändert. Die Gespräche wurden auf Russisch geführt und auf Deutsch übersetzt. Dafür standen uns Dolmetscher und eine Kontaktperson aus Deutschland, Dimitri Orlow (28, Politikberater und Experte mit Schwerpunkt auf russische Innenpolitik) zu.

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