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WIE BUNT IST HANAU? Ehemaliger Opferbeauftragter Robert Erkan im Interview

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Von: Kerstin Biehl, Yvonne Backhaus-Arnold

Robert Erkan bezeichnet sich als viel-heimisch. Seine Mutter kommt aus Kroatien, sein Vater aus der Türkei. Geboren ist er in Sachsenhausen, aufgewachsen auf dem Römerberg. Heute lebt er in Steinheim.
Robert Erkan bezeichnet sich als viel-heimisch. Seine Mutter kommt aus Kroatien, sein Vater aus der Türkei. Geboren ist er in Sachsenhausen, aufgewachsen auf dem Römerberg. Heute lebt er in Steinheim. © Patrick Scheiber

36 Stunden nach dem rassistisch motivierten Attentat vom 19. Februar 2020 wurde der Hanauer Mediator Robert Erkan von der Stadt Hanau zum Opferbeauftragten berufen. Fortan kümmerte er sich „als Mittler zwischen den Religionen“, wie ihn Ministerpräsident Volker Bouffier bezeichnete, um die Familien der Opfer. Für dieses besondere Engagement wurde Erkan mit dem Walter-Lübcke-Demokratie-Preis ausgezeichnet.

Hanau – Im Gespräch mit unserer Zeitung wirft der Hesse mit kroatisch-türkischen Wurzeln einen Blick auf Rassismus, Integration und seine eigenen Erfahrungen damit.

Wenn Sie an Ihre Kindheit denken, woran erinnern Sie sich?

So bis zum achten Lebensjahr empfand ich mich als ganz normal. Ich bin ein Sachsenhäuser Bub, auf dem Römerberg groß geworden. Meine Mutter hat gesagt: ‚Du gehst jetzt raus zum Spielen und wenn es dunkel wird, bist du wieder da’. Draußen habe ich andere Kinder getroffen und da war es unerheblich, wer mit wem, was ist. Wir haben uns Streiche gespielt, haben aus dem Gerechtigkeitsbrunnen die Pfennige rausgetaucht. Die Obdachlosen haben mir Schach beigebracht. Wir haben Fußball gekickt, wo heute die Schirn steht.

Hat sich das irgendwann verändert?

Ja, in der Schule. Hier habe ich gemerkt, dass ich anders behandelt werde. Der Höhepunkt war vom Übergang 4. in die 5. Klasse. Ich hatte schlechte Noten, vor allem in Deutsch. Ich hatte nie wirkliche schulische Unterstützung meiner Eltern. Sie konnten mir nicht helfen, selbst noch neu in Deutschland. Wir haben zuhause zwar Deutsch gesprochen, aber grammatikalisch nicht richtig. Im Zeugnis bekam ich eine Empfehlung zur Versetzung in die Hauptschule. Begründung: Ich gehe als Gastarbeiterkind sowieso mit den Eltern bald zurück in die Türkei.

Und dann?

Ich bin gerade so auf die Förderstufe, einem Zweig der Hauptschule, gekommen. Wir waren drei Kinder meiner bisherigen Klasse, darunter ein jüdisches Mädchen. Sie sollte gar auf die Sonderschule verwiesen werden. Sie hieß Iris, lebt heute in Israel und ist Ärztin. Meine junge Deutsch- und Klassenlehrerin in der 5. hat sich uns Dreien angenommen. Ihre Unterstützung hat dazu geführt, dass sich meine Leistungen um 180 Grad gedreht haben und ich ab der 7. Klasse aufs Gymnasium durfte, wo ich Abitur machte.

Spielt Schule bei Integration also eine entscheidende Rolle, oder Lehrer?

Es spielt natürlich eine Rolle, wie ein Lehrer ein Kind sieht. Dadurch, dass Lehrkräfte eine wichtige Rolle spielen, hängt es sehr wohl ab von der Lehrkraft, wie sie fördert – oder eben nicht. Der größte Mangel bei Lehrkräften ist systemimmanent begründet. Sie kommen in einen Schulbetrieb und haben immer eine erste Klasse oder immer eine achte. Ihr Leben ist quasi in dieser Klasse eingefroren, aber sie werden ja älter, das Leben ändert sich. Und jede 8. Klasse ist anders. Die Frage ist, wie geht die Lehrkraft mit den vielen 8. Klassen ihrer 30, 40 Jahre Berufsjahre um? Anders gefragt: Gehen und kommen Lehrkräfte in der Alltagswirklichkeit mit und wie werden sie darin unterstützt?

Was haben die Erfahrungen in der Schule mit Ihnen gemacht?

Ich wurde sensibilisiert. Wir waren 80 Prozent Deutsche, 20 Prozent Gastarbeiterkinder. Dennoch gab es immer wieder Situationen, wo über eine Gruppe von Türken, Griechen, Italienern gesprochen wurde, aber mich hat man damit nicht identifiziert. Ich werde bis heute kaum in Schubladen gesteckt. Der Robert hat mir sehr geholfen. Mein Leben wäre ein anderes geworden, wenn ich ein Mehmet gewesen wäre.

Warum?

Weil ich damit entmarkiert war, bis heute. Ich kann mich als Robert ganz anders bewegen als ein Mehmet. Wobei der Erkan bis heute noch die Nase rümpfen lässt. Am deutlichsten sagen das meine erwachsenen Kinder in ihrem heutigen Erleben.

Woran liegt das?

In der Reaktion des anderen. In der Sprache, in der Signatur, die diese Bilder entstehen lassen. Und das ist eine große Last – und das weiß ich auch von vielen anderen. Das ist eine nicht ausgesprochene Normalität. Genauso wie die damaligen Gastarbeiterkinder: Wir waren Gast und unsere Eltern durch ihre Arbeit geduldet. Auch das sagt viel. Aber wo sollte ich denn hin, wenn zurück? Zurück nach Sachsenhausen? Manchmal habe ich mich entmarkiert, wenn ich gesagt habe ‘Ich bin aber ein halber Türke’. Dann kam der Satz zurück, der mich bis ins Jugendalter verfolgt hat: ‘Dich meinen wir nicht.’ ‘Ja, wen meint ihr denn?’, habe ich gefragt. ‘Na, die Türken.’ Da habe ich eine Idee davon bekommen, dass es um Zugehörigkeit geht.

Ihre kroatische Mutter und ihr türkischer Vater haben entschieden, daheim Deutsch zu sprechen. Das ist nicht in allen Zuwandererfamilien so. Welche Auswirkungen hat es das?

Die Frage ist, warum ist es diesen Familien wichtig, die ursprüngliche Sprache zu sprechen. Wir haben hier in Hanau diesbezüglich tatsächlich Nachholbedarf. Die Attraktivität, Deutsch zu sprechen, ist in vielen Familien nicht immer hoch angelegt. Das hat möglicherweise mit der eigenen Bildungshistorie zu tun, damit, wie Sprachvielfalt in der eigenen Familie gelebt wird. Wir haben in den Communities unterschiedliche Milieus. Und innerhalb der Milieus – das ist so wie bei den Deutschen auch – gibt es immer auch Intolerante, Uneinsichtige, Dickköpfige.

Ist deshalb Integration so schwierig? Weil jeder anders ist?

Wir alle sind von Natur aus anders und gleich zugleich. Wir haben viele Eigenschaften, sind mal so mal so. Sind reich an Kompetenzen und Fähigkeiten. Wir haben aber auch in uns ein Teufelchen und ein Engelchen. Das ist auch Vielfalt. Wir sollten anerkennen, dass wir Vieles in uns haben. Und Integration heißt, dass wir das Viele vereinen, wir vom ‘Oder’ zum ‘Und’ kommen, und dass jeder in uns so sein darf, wie er ist. Ich habe ein positives Menschenbild, eine Grundoffenheit jedem gegenüber. Das macht ein Miteinander um Einiges einfacher.

Sind also Offenheit und Sprache das Mittel für ein gutes Miteinander?

Sprache hilft, aber Sprechen ist besser. Ich kann mich auch mit jemandem, der nicht meine Sprache spricht, verständigen. Diese Erfahrung habe ich während meines Militärdiensts Ende der 80er in der Türkei gemacht. Ich konnte kaum Türkisch, musste aber als Türke; als Gastarbeiterkind, das erst mit 25 Jahren seinen deutschen Pass bekommen hat, vorher dorthin zum Militär. Skurril. Zwei Monate Grundwehrdienst. Bis dahin mussten wir regelmäßig zum Einwohnermeldeamt gehen und die Aufenthaltserlaubnis abstempeln lassen. Mit der Aufenthaltsberechtigung wurde es zwar einfacher, aber nicht besser. So bin ich in meiner Heimat hier groß geworden. Für die Türken war ich in der Türkei auch anders. Ein katholischer Türke. Und auch in Kroatien, dem Land, aus dem meine Mutter kommt. Auch meine Eltern erleben das, außerhalb unserer Ursprungsfamilien. Glauben Sie nicht, dass meine Eltern, wenn sie in die Türkei oder nach Kroatien gehen, dort noch als reiner Türke oder Kroatin angesehen werden.

Warum ist das so? Schließlich sind ihre Eltern doch in den jeweiligen Ländern geboren.

Das hat etwas mit Gruppendenken und Zugehörigkeit zu tun. Vergleichbar wie hier mit dem Lokalpatriotismus. Auch hier in Hanau kann man das erleben, zum Beispiel innerhalb von Steinheim, Großauheim, Klein-Auheim. Aber das ist auf der ganzen Welt so. Bei den Themen, über die wir hier diskutieren, ist Frankfurt als internationale Metropole 20 Jahre weiter. Das hat was mit der Entwicklung der ganzen Region zu tun. Für mich ist Hanau immer ein paar Jahre hinten dran. Zwar prima entwickelt, dennoch immer noch ein Stück provinziell. Hier wird zu viel Klein-Klein gedacht. Die Frage ist ja auch, wie definiere ich Freiheit und Integration für mich. Ich kann hier so leben, wie ich will. Aber so funktioniert Integration nicht. Integration bedeutet, dass ich auch den anderen so akzeptieren muss. Diesen Schritt haben wir nicht deutlich genug gemacht bei den Einwanderern. Uns war nicht klar, dass wenn Menschen nach Deutschland kommen, sie keinen jahrelangen Partizipationsprozess zur Diskussionskultur mitbringen. Ich verstehe da sehr wohl die einheimischen Deutsche, wenn die Geduld auch mal an Grenzen kommt.

Entsteht dadurch Alltagsrassismus?

Wenn ich mit viel Andersartigkeit in Verbindung komme, dann frage ich mich, warum rege ich mich so auf, dass der andere so anders ist oder warum habe ich so eine Abwehr, Angst und Sorge? Wenn ich aber in mir sicher bin, dann kann mir doch egal sein, was der andere macht. Also hat das viel mit Unsicherheit und Ängsten zu tun, auch die mit der eigenen Identität. Und ich glaube, dass darin eine versteckte, noch nicht geführte Debatte liegt, was Deutsch eigentlich ist. Ich persönlich kann sagen, ich bin stolz Deutscher zu sein und habe überhaupt keine Probleme, dadurch in irgendeine Ecke gedrängt zu werden, weil das gar nicht geht. Unter Einheimischen ist ein solches Statement aber schwierig. Denn es gibt eine nicht ausdiskutierte Bearbeitung der eigenen Geschichte, aber zuweilen auch krude rassistische Vorstellungen. Da müssen wir hinsehen.

Blicken wir auf Hanau, mit Corona und dem 19. Februar – was können die Menschen tun, um das Zusammenleben vorurteilsfrei zu gestalten?

Wir müssen anerkennen, dass wir Vorurteile haben. Jeder hat doch eine These, was er glaubt, wie der andere sein könnte. Da sollten wir genauer hin sehen, auf welchen Annahmen basieren Vorurteile, die zu Urteilen werden und unveränderbar wirken. Die bewussten und unbewussten Annahmen, die wir haben, ob moralisch, kulturell oder auch ideologisch, basieren auf Erfahrungen, die wir in die Gegenwart übertragen. Dies sollten wir unter die Lupe nehmen.

Gibt es inzwischen einen anderen Umgang mit Alltagsrassismus?

Ich denke die Betroffenen waren abgestumpft, weil sie es nicht anders kannten. Aber sie werden lauter. Sie machen sichtbarer, was schon längst da war, angestoßen durch die Rassismus-Debatte. Sie nehmen es nicht mehr hin. Wir Gastarbeiterkinder haben es damals hingenommen. Das war einfach so. Wir kamen nie auf die Idee zu sagen: Was redet ihr da? Wir wussten, wir waren Gast und haben die Klappe gehalten. Darüber gab es keinen Diskurs.

Aktuell wird in Hanau die Frage nach dem Platz für das Mahnmal zum 19. Februar kontrovers diskutiert. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Eine schwierige Frage. Am Ende wird es eine politische Antwort im Stadtparlament geben, mit hoher Partizipation der Angehörigen. Wir sollten eine Entscheidung treffen, welche den geringsten kollektiven Widerstand hat. Wenn zu arg abgewogen werden muss, dann wäre meiner Meinung nach die richtige Lösung, erst einmal kein Mahnmal aufzustellen. Das sage ich aus meiner Erfahrung als Mediator. Ich favorisiere den Marktplatz, aber auch den Freiheitsplatz. Es ist eine der schwierigsten Fragen, die sich eine Kommune stellen muss. Dann haben wir auch noch zwei Jahre Pandemie, wo Diskurs und Dialog, der notwendig wären, nicht stattfinden konnten. Zwei Jahrhundertereignisse innerhalb von drei Wochen. Das steckt ganz Hanau in den Knochen. Das ist noch nicht vorbei.

Das Interview führten Yvonne Backhaus-Arnold und Kerstin Biehl.

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