Kindermord-Prozess in Hanau: Schwierige Rekonstruktion des Tathergangs - Vater schweigt

Am Landgericht wird rekonstruiert, wie es zum Tod eines Jungen und seiner Schwester in Hanau im Mai 2022 kommen konnte. Der tatverdächtige Vater schweigt.
Hanau - Was ist am 11. Mai 2022 in der Wohnung im neunten Stock in Hanau passiert? Ein 47-Jähriger soll an diesem Morgen in dem Hochhaus an der Römerstraße seine siebenjährige Tochter durch mehrere Messerstiche getötet haben; der elfjährige Sohn starb nach einem Sturz vom Balkon. Da der Angeklagte zum Tathergang schweigt, versucht die 1. Schwurgerichtskammer am Landgericht Hanau nun mühevoll und mithilfe von Sachverständigen, die Geschehnisse anhand von Spuren zu rekonstruieren.
Ist der Junge in Panik in die Tiefe gesprungen? Hat ihn der Vater gestoßen? Oder das Sicherheitsnetz zerschnitten, in dem der Junge möglicherweise hängen geblieben war? Um dieses Netz, das am Balkon der Familie gespannt war, ging es am jüngsten Prozesstag. Dazu war im Innenhof des Landgerichts ein Modellversuch aufgebaut.
Ein schwarzes Netz ist zwischen Holzbalken gespannt. Die Maschen lassen sich mit den Fingern auseinanderreißen. Das Gewicht des Dummys – mit 52 Kilogramm so schwer wie der Elfjährige mit Kleidung – reißt das Netz zwar aus der Verankerung. Die Maschen werden dabei nicht beschädigt.
Kindermord-Prozess in Hanau: Angeklagter schweigt - Tochter und Sohn sterben im Mai 2022
Der Versuch, so zeigt sich, ist nur bedingt geeignet, die Ereignisse am Tattag nachzustellen. Das verwendete Netz sei dem Original in der Machart zwar sehr ähnlich, „aber nicht genau materialgleich“, führt Angelika Schwetz aus. Die Sachverständige für textile Spuren beim Landeskriminalamt (LKA) Hessen hat auch das Netz untersucht, das am Balkon an der Römerstraße gespannt war. Das habe sich poröser angefühlt, wies Witterungsspuren und Löcher auf. An diesen schadhaften Stellen hätte es durch das Gewicht des Jungen reißen können, meint Schwetz.
Die Sachverständige hat an diesem Netz auch kaputte Stellen gefunden, die möglicherweise nicht gerissen sind, sondern durchtrennt wurden. Das könnte darauf hinweisen, dass der Täter die Maschen mit dem Messer zerschnitten hat, als der Junge im Netz hing.
Kein Szenario lässt sich an diesem Prozesstag mit Sicherheit bestätigen. Das gilt auch für die Frage, wie Blutspuren des Mädchens auf die Kleidung des Jungen gelangt sind. An der schwarzen Sweatjacke und der Jeans des Elfjährigen sind solche Spuren gefunden worden. Winzige Tropfen, nur wenige Millimeter groß, teilweise zu klein für einen DNA-Nachweis. Können sie von der Kleidung des Täters auf die Kleidung des Jungen übertragen worden sein? Oder stand der Elfjährige im Zimmer, als seine Schwester getötet wurde?
Kindermord-Prozess in Hanau: Stand der Junge im Zimmer, als seine Schwester getötet wurde?
Antworten auf diese Fragen erhofft sich die Kammer von Dr. Matthias Kettner, Rechtsmediziner der Universität Frankfurt. Der Experte untersucht im Gerichtssaal den Blutfleck auf der Jeans des Jungen mit einem Dermatoskop. Das wahrscheinlichste Szenario ist aus seiner Sicht, dass das Blut auf die Hose getropft ist. Seine Vermutung: Als die Schwester sich über die Balkonbrüstung lehnt, tropft Blut von ihren Fingern nach unten auf den Parkplatz, wo der Bruder liegt.
Das Gericht begutachtet dazu noch einmal die Blutspuren auf dem Balkon. Der Vorsitzende Richter Dr. Mirko Schulte schickt einen Hinweis an die Zuschauer voraus, dass die gezeigten Fotos vielleicht nicht für jeden zu ertragen sind. An einem früheren Prozesstag hatte Rechtsmedizinerin Dr. Constanze Niess diesen Ablauf rekonstruiert: Das Mädchen, das aus Schnittwunden am Hals stark blutet, schleppt sich auf den Balkon und lehnt sich über die Betonbrüstung, an der innen und außen blutige Fingerabdrücke zurückbleiben.
Kindermord-Prozess in Hanau: Experten stellen Theorien vor - Fortsetzung am 17. Mai
Weitere Blutspuren auf den Pflastersteinen des Parkplatzes sind gesichert, aber bislang nicht ausgewertet worden. Ob das nachgeholt werden soll, um die Theorie des Experten zu untermauern, lassen die Prozessbeteiligten an diesem Tag noch offen. Letztlich ließe sich auf diesem Weg wohl auch ein weiteres Szenario nicht ganz ausschließen. „Ist es denkbar, dass die Blutspritzer auf der Jacke des Jungen vom Tatwerkzeug abgeschleudert wurden?“, fragt Staatsanwalt Dr. Oliver Piechaczek den Sachverständigen. Auch Richter Schulte will abschließend von Dr. Kettner wissen, wie wahrscheinlich das ist. Denkbar sei das, aber wenig wahrscheinlich, so der Experte, der auch eine Kombination beider Szenarien nicht ausschließen kann.
Und was ist mit der Theorie, dass das Blut von der Jacke des Vaters auf die Jacke des Jungen gelangt ist, es also einen Kontakt gab? Theoretisch sei das möglich, meint der Experte, aber zur Form der Spuren passe das eigentlich nicht. „Das ist kein Wischer.“ Der Prozess soll am Mittwoch, 17. Mai, um 9 Uhr fortgesetzt werden. (Katrin Stassig)