Aussteigerin aus Hanauer Sekte offenbart vor Gericht erschütternde Details

Immer wieder legt Claudia H. die linke Hand vors Gesicht, so, als ob sie sich verstecken wolle. Aber sie kann sich nicht verstecken, muss der Aussage von Birgit P. zuhören. Und diese fast vierstündige Aussage hat es in sich. Sie offenbart erschütternde Details über das Leben in der Sekte und über das Leben von Jan H.. Und sie ist – von der ersten bis zur letzten Minute – absolut authentisch.
Hanau - Im November 2019 hatte P. im Prozess gegen die mutmaßliche Sektenanführerin Sylvia D. am Landgericht Hanau ausgesagt. D. ist mittlerweile wegen des Mordes an Jan H. verurteilt worden. Der Vierjährige war am 17. August 1988 im Haus von D. in der Hanauer Weststadt ums Leben gekommen – erstickt an Erbrochenem in einem zugeschnürten Leinensack, wie das Gericht im September 2020 festgestellt hatte. Die Revision läuft. Das Urteil ist demnach noch nicht rechtskräftig.
Mehr als zwei Jahre später nimmt die heute 64-jährige Birgit P., die 1990 nach langem Hin und Her aus der Sekte ausgestiegen ist, erneut im Zeugenstuhl im Saal 215 des Hanauer Landgerichts Platz. Auf der Anklagebank sitzt heute Claudia H. Sie muss sich seit September vergangenen Jahres wegen Mordes verantworten. Vor 33 Jahren soll H. an der vorsätzlichen Tötung ihres Sohnes Jan beteiligt gewesen sein.
1981 kam es zur fatalen Begegnung mit Sylvia D.
Drei Stunden war P. am Morgen im Auto unterwegs von Nordhessen nach Hanau. Sie trägt eine weite Stoffhose, dazu eine braun-schwarz karierte Jacke. „Das ist ein neues Verfahren“, sagt die Vorsitzende Richterin, Landgerichtspräsidentin Susanne Wetzel zu P. „Drücken Sie gedanklich den Reset-Knopf.“
Eine Freundin hatte die junge Frau 1981 mit Sylvia D. und ihrem Mann Walter bekannt gemacht. Eine fatale Begegnung. Die Frankfurterin, die mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn danach Woche um Woche nach Hanau kam, war gefesselt von der Gruppierung, auch wenn ihr das heute selbst absolut unwirklich erscheint. 1986 zog die Familie mit anderen Sektenmitgliedern in ein Haus nach Hanau, unweit dem der D.s. Es war ein jahreslanges Verhältnis aus Abhängigkeit und Denunziation. Adoptierte und Pflegekinder der D.s wurden im Haus klein gehalten, von den Erwachsenen in ihren Zimmern eingeschlossen, zum Beispiel nach der Schule.
„Es war wie eine Gehirnwäsche“
Dennoch gibt auch P., gelernte Krankenschwester, ihren Sohn – wie H. – in die Obhut der D.s. Einmal habe sie ihn abholen wollen. Er war im Zimmer im ersten Stock vergessen worden, lag im Bett, bis zum Hals eingeschnürt in einen Armeeschlafsack. Warum sie damals nicht ausgestiegen ist aus der Gruppierung, kann P. sich bis heute nicht erklären. „Es war wie Gehirnwäsche“, sagt sie. Auch ihr Sohn Johannes war in Tagebucheinträgen dämonisiert und sein Tod angekündigt worden. Da heißt es, dass Gott ihn fast „geholt“ hätte, weil er böse sei, ähnlich wie Jan H., bei dem er den Lebensfaden durchgeschnitten habe.
Einmal musste er ins Krankenhaus eingeliefert werden – mit Strangulationsmalen am Hals. P. geht davon aus, dass sich der Vorfall, den die D.s dem „Alten“ in die Schuhe schoben, vor Jans Tod ereignete, in den Unterlagen der Sekte ist er auf den 17. September 1988, also nach Jans Tod, datiert. Ein absichtlicher Falscheintrag? Das Krankenhaus jedenfalls schaltete damals weder das Jugendamt noch die Polizei ein.
Jan war eine „Gestalt des Jammers“
„Welche Bilder haben Sie von dem kleinen Jan im Kopf?“, will Wetzel wissen. „Sehr unschöne“, sagt P. Mit Schlägen und Schimpftiraden von D. sei der Junge erniedrigt worden, über die Maßen malträtiert, immer wieder gestopft mit Essen, dass er gar nicht so schnell schlucken konnte, wie D. es ihm in den Mund schob. D. habe ihn den „reinkarnierten Hitler“ genannt.
Jan sei eine Gestalt des Jammers gewesen, still, abgemagert, mutmaßlich mit einer Fehlstellung der Hüfte, denn er sei auch schlecht gelaufen. „Er saß oft stundenlang auf dem Töpfchen, wurde mit dem Gesicht zur Wand gedreht, wenn Besuch kam. Da war eine Verhornung am Po, ein richtiger Abdruck.“ Das Leben von Jan sei ein Martyrium gewesen.
„Genauso will es der Alte“, sagte die Sektenchefin damals
Einmal, 1987, also ein Jahr vor Jans Tod, sei Besuch im Haus gewesen, das Gäste-WC war besetzt, P. nutzte das normale Bad. „Ich dachte, da liegt Bettzeug auf einer Matratze, aber dann habe ich gesehen, wie das Bündel, das mit einer Binde eingeschnürt war, sich hebt und senkt.“ P. dachte sofort an Jan. Es war das erste Mal, dass sie ihn so liegen sah. „Er war bis über den Kopf eingeschnürt – wie eine Mumie.“
Warum hat sie Jan nicht geholfen, wo es doch offensichtlich um Kindeswohlgefährdung ging, will Wetzel wissen. „Ich konnte es einfach nicht. Ich hatte Angst, mein Selbstvertrauen war zerstört.“ Als sie D. nach dem Bündel im Badezimmer fragt, bricht die in eine Schimpftirade aus. Das sei richtig so, habe D. gesagt. Und: „Genau so will es der Alte (so wurde Gott in der Sekte genannt, Anm. d. Red.).“ Hatten die anderen Sektenmitglieder Kenntnis? „Das wussten alle“, sagt die 64-Jährige und schaut zu Claudia H., die wenige Monate später mit ihrer Familie in das Haus der D.s zog, „ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das nicht wusste“.
Vernehmung wird am 27. Januar fortgesetzt
Als P. von Sylvia D. – auf Geheiß des „Alten“ – aus dem Haus an der Kepplerstraße verstoßen wurde, wurde sie krank, brauchte lange, um auszusteigen und ein neues Leben zu beginnen. Nach ihrem Ausstieg aus der Sekte hat sie eine neue Familie gegründet. Ihr eigenes Fehlverhalten, ihr Schweigen von damals, begleiten P. „Dass ich nichts getan habe, werfe ich mir bis heute vor.“
Die Vernehmung von Birgit P. wird am Donnerstag, 27. Januar, fortgesetzt. Dann sind Staatsanwalt, Sachverständige und Verteidigung an der Reihe. Die öffentliche Verhandlung beginnt um 10 Uhr.
Von Yvonne Backhaus-arnold