Erschütternde Bilder im Hanauer Kindermordprozess
Ein Vater soll seine Kinder in einem Hochhaus in der Hanauer Innenstadt auf brutale Weise getötet haben. Nun wurden in dem Kindermordprozess weitere erschütternde Details bekannt.
Hanau – Die kleine Wohnung im neunten Stock des Mehrfamilienhauses ist karg möbliert. Vor dem Doppelbett im einzigen großen Raum liegen zwei gepackte Schulrucksäcke. Auf der Decke, am Boden, an der Balkonbrüstung – überall finden sich Blutspuren, manche sehen aus wie kleine Fingerabdrücke. Die Tatortgruppe hat alles festgehalten. Foto um Foto wird an diesem Morgen auf die Bildschirme im Saal des Hanauer Landgerichts projeziert. Die Stille zwischen den Aufnahmen fühlt sich erdrückend an.
Auf der Anklagebank sitzt der 47-jährige mutmaßliche Mörder, das Gesicht fast zwei Stunden lang hinter der schwarzen Mütze verborgen. Er soll an jenem Mai-Morgen seine siebenjährige Tochter und seinen elf Jahre alten Sohn ermordet haben. Erbarmungslos prasseln die Übersetzungen auf ihn ein. Zwischendurch lässt er übermitteln, dass er nichts mehr übersetzt haben möchte. Der Vorsitzende Richter Dr. Mirko Schulte nimmt es zur Kenntnis, weist den Dolmetscher dann aber an: „Übersetzen Sie weiter!“
Kindermordprozess in Hanau: Frage nach Sprung oder Stoß noch nicht geklärt
Die Mutter der beiden Kinder, die als Nebenklägerin im Prozess auftritt, hat den Saal gleich zu Beginn verlassen, als Schulte erklärt, dass heute der Tatort in Augenschein genommen, danach ein Blutverteilungsgutachten vorgestellt wird – denn statt des Angeklagten, der bisher zum Tatablauf schweigt, müssen Indizien sprechen. Und deren Sprache ist so deutlich wie erschütternd.

Dr. Constanze Niess arbeitet am Institut für Rechtsmedizin an der Universität Frankfurt. Die 55-Jährige hat sich auf Gesichtsrekonstruktionen spezialisiert. Heute stellt sie das sogenannte Blutspurenverteilungsgutachten vor. Die Rechtsmedizin war dazu am Tag nach der Tat in der Wohnung und auf dem Balkon, über den der Elfjährige in den Tod stürzte – ob er in Panik gesprungen ist oder von seinem Vater gestoßen wurde, ist bisher nicht aufgeklärt.
Fest steht – und das „sagt“ auch die Verteilung des Blutes: Der Vater überraschte seine Kinder beim Verlassen der Wohnung, nutzte seine körperliche Überlegenheit brutal aus, drückte die Siebenjährige aufs Bett und schnitt ihr mit einem scharfen Gegenstand „in schneller Abfolge“ zweimal in den Hals.
Rechtsmedizinern: „Ein Schwall Blut hat die Decke durchtränkt.“
Die Mutter war da schon im Bus und auf dem Weg zur Arbeit. Ihr getrennt von ihr lebender Mann hat sie verfolgt. Mittels Videoaufnahmen, die in der vorigen Verhandlung eingeführt wurden, konnten die Wege des Mannes akribisch nachgezeichnet werden – bis zu seiner Flucht nach der Tat.
„Ein Schwall Blut“, so die Fachärztin für Rechtsmedizin, „hat die Decke durchtränkt.“ Danach legen die Spuren folgendes Szenario nahe: Das Mädchen nimmt eine Hand vom Hals weg. Blut spritzt an die Wand. Auf dem Weg Richtung Balkon, über den ihr Bruder Sekunden zuvor gefallen ist, greift sie an den Türrahmen, läuft weiter bis zur Balkonbrüstung.
Sie hinterlässt Fußabdrücke in ihrem eigenen Blut, beugt sich nach vorn und schaut, davon geht auch die Staatsanwaltschaft aus, nach unten. „Ich denke, dass sie mehrere Sekunden lang an der Balkonbrüstung innegehalten hat“, so Niess. Die Bilder zeigen den Abdruck einer kleinen Hand.
20 Sekunden, schätzt die Rechtsmedizinerin, habe die Siebenjährige noch gelebt, bevor sie auf dem Balkon zusammenbrach und starb. Was verspürt ein Mensch in dieser Situation, will Dr. Mirko Schulte wissen. Die Bewegung sei nicht eingeschränkt, sie habe auch noch geatmet, bevor das Blut in Luftröhre und Lunge gelangte. Schmerz? Man wisse, sagt Niess, aus Erfahrungsberichten, dass der Adrenalinschock so groß sei, dass man es zwar als feucht oder warm empfinde, aber selten sei von Schmerzen die Rede.
Kindermordprozess in Hanau: Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden
Der Angeklagte hat sich, auch das zeigt das Gutachten, selbst verletzt. Nach seiner Festnahme in der Nähe von Paris wurde die Schnittverletzung am linken Finger im Foto festgehalten. Sie erklärt, weswegen am Fahrstuhlknopf und – weil dieser scheinbar nicht schnell genug kam – auf dem gesamten Fluchtweg durchs Treppenhaus eine sogenannte Mischspur gefunden wurde, also das Blut des Angeklagten gemischt mit dem seiner Tochter. Die zahlreichen Videoaufnahmen nach der Tat – er flüchtete zum Marktplatz, stieg hier in ein Taxi – zeigen den 47-Jährigen mit einer verbundenen Hand. Auch das ein Indiz für den Ablauf, der an diesem Morgen im Gerichtssaal wie ein Puzzle zusammengesetzt wird.
Die Tatwaffe fehlt bis heute. Die Rechtsmedizinerin geht davon aus, dass es ein scharfer Gegenstand mit einer eher kürzeren Klinge gewesen sein muss. Die öffentliche Verhandlung wird am Montag, 20. März, um 9 Uhr fortgesetzt. (Yvonne Backhaus-Arnold)