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Corona-Krise endet erst mit Impfstoff - Chemikerin über Herdenimmunität: „Undenkbares Szenario“

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Von: Nico Scheck, Marvin Ziegele

Weltweit wütet das Coronavirus. Die mit mehreren Preisen ausgezeichnete Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim erklärt: Die Corona-Krise endet nur mit einem Impfstoff.

Update, 08.04.2020, 09.05 Uhr: Inzwischen hat sich YouTuberin Mai Thi Nguyen-Kim auch in einem Kommentar in der „Tagesschau“ um die Debatte der sogenannten Herdenimmunität eingemischt. Herdenimmunität bezeichnet dabei die Form des Schutzes vor dem Coronavirus, bei dem sich zunächst ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung anstecken müsste, um anschließend immun zu werden. „Doch die Idee ist faul“, kommentiert Nguyen-Kim. 

Für eine natürliche Herdenimmunität müssten sich in Deutschland rund 50 Millionen Menschen infizieren, so die YouTuberin. Falls das Gesundheitssystem in diesem Zeitraum nicht zusammenbreche, ginge dies nur in einem Zeitraum von einem Jahr – einhergehend mit starken Einschränkungen. Solch ein Szenario sei „undenkbar“. Auch das „Wegsperren“ von Risikogruppen sei nicht nur unsolidarisch, sondern auch „grob fahrlässig“. Man könne Risikogruppen nicht zu einhundert Prozent schützen und jeglicher Kontakt zu einer sich infizierenden Gesellschaft wäre in diesem Fall nur umso gefährlicher. 

Nguyen-Kim betont, dass auf solchen Hoffnungen oder Ideen keine Exit-Strategie aus der derzeitigen Corona-Krise geformt werden könne. Man verkenne damit „den Ernst einer Pandemie, die es in dieser Wucht seit der spanischen Grippe nicht mehr gegeben hat“. Aktuell habe man noch die Chance, mit einem „blauen Auge davonzukommen“, wenn man sich nicht „durch Scheinlösungen ablenken lässt“.  

In ihrem neuen Video bei Youtube vergleicht „maiLab“ die Corona-Experten. Ein beliebter Virologe kommt besonders schlecht weg.

Chemikerin erklärt: Corona-Krise geht erst richtig los - und endet nur mit dem Impfstoff

Ursprünglicher Artikel vom 06.04.2020, 09.00 Uhr: Mittlerweile hat es fast vier Millionen Klicks. Innerhalb von vier Tagen. Am 2. April schickt Chemikerin und YouTuberin Mai Thi Nguyen-Kim ein Video zur Corona-Krise auf die Reise, das viraler geht als jede Fail Compilation. In besagtem Video checkt Nguyen-Kim die Fakten rund ums neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 und geht der Frage nach, wann die Pandemie endlich überstanden ist. Spoiler: Nehmen Sie sich für das Jahr 2020 nicht mehr allzu viel vor. 

YouTuberin Nguyen-Kim erklärt: „Die Corona-Krise geht gerade erst richtig los“

In ihrem neuen Video auf ihrem YouTube-Kanal „maiLab“ erklärt die Chemikerin, dass die Pandemie in der Theorie erst dann überstanden ist, wenn eine Herdenimmunität erreicht ist. Das sei der Fall, wenn etwa 60 bis 70 Prozent der Menschen sich infiziert haben und wieder erholt sind. Nguyen-Kim rechnet vor: Bei 73.000 bestätigten Corona-Fällen in Deutschland (Stand 1. April) und einer Dunkelziffer von etwa Faktor zehn stehen wir aktuell bei einer Herdenimmunität von knapp einem Prozent. 

Geht man nun von dem aktuellen Stand (6. April) aus, steht Deutschland laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) bei knapp 100.000 bestätigten Fällen. Auch hier haben wir nur eine Herdenimmunität von etwas mehr als einem Prozent. So kommt die Wissenschaftlerin nur zu einem Schluss: „Die Corona-Krise geht also gerade erst richtig los.“ 

Das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 breitet sich weltweit aus.
Das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 breitet sich weltweit aus. © Center for Disease Control / dpa

Corona-Krise: Epidemie-Maßnahmen und wo Deutschland gerade steht

Um zu verstehen, was also nötig ist, um die Corona-Krise zu überstehen, erklärt Nguyen-Kim zunächst die Epidemie-Maßnahmen. Phase 1 ist Containment, worunter Eindämmung zu verstehen ist. Es wird versucht, die Krankheit im Keim zu ersticken. Das erfolgt über die Isolation von Infizierten, der Nachverfolgung der Kontaktpersonen und auch deren Isolation. 

Ziel ist es, den Überblick über das Corona-Virus zu behalten und die Ausbreitung zu verhindern. Gelingt das nicht, geht es zu Phase 2 über: Mitigation, die Schadensbegrenzung. Jetzt sind flächendeckende Maßnahmen wie Kontaktverbot* oder Ausgangssperren* das Mittel der Wahl. Ziel ist, die Ausbreitung zu verlangsamen, damit das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht. „Flatten the curve“ (dt.: die Kurve flachhalten) ist das Stichwort. 

Corona-Pandemie: Ein Infizierter darf weniger als eine Person anstecken, um Ausbruch zu stoppen

Für alle, die gehofft haben, nach Ostern ist der ganze Spuk vorbei, hat Nguyen-Kim eine schlechte Nachricht: „Diese Vorstellung ist leider realitätsferne Fantasie.“ Die Chemikerin liefert Zahlen. So gibt die sogenannte Basisreproduktionszahl R0 an, wie viele Menschen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt, wenn niemand immun ist und auch keine Maßnahmen getroffen werden. Im Fall des Coronavirus Sars-CoV-2 sind es zwei bis drei Personen. 

Nguyen-Kim erklärt weiter, dass der Ausbruch erst zum Erliegen kommt, wenn dieser Durchschnitt bei unter eins liegt. Sprich: Ein Infizierter muss weniger als eine Person anstecken. Um das zu erreichen, werden Maßnahmen wie das Kontaktverbot in Deutschland getroffen. Doch auf welchen Durchschnitt muss die Reproduktionszahl gesenkt werden, damit unser Gesundheitssystem dem Ganzen standhält? 

Corona-Krise könnte sogar zwei Jahre dauern

Die Chemikerin zeigt dafür die Modellierungen der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie mit verschiedenen möglichen Szenarien für Deutschland. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass die Reproduktionszahl auf einen Bereich zwischen 1,25 und 1,1 gesenkt werden muss. Um das zu erreichen, bräuchte es eine ordentliche Kontaktreduktion. Das Problem: Bei dieser Maßnahme wäre die Krise laut den Modellen erst in einem Jahr, in manchen sogar erst in zwei Jahren vorbei. 

Die Modelle der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie mit verschiedenen möglichen Szenarien der Corona-Krise für Deutschland.
Die Modelle der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie mit verschiedenen möglichen Szenarien der Corona-Krise für Deutschland. © Screenshot @DGEpi

Utopisch, steht die Wirtschaft doch schon jetzt am Abgrund. Nguyen-Kims Fazit: „Wenn die Größenordnung nicht völlig daneben ist, dann ist 'flatten the curve' bis zur Herdenimmunität nicht durchhaltbar.“ 

Coronavirus: Deutschland muss zurück zu Phase 1

Was also tun? Deutschland muss wieder zurück zu Phase 1, also Containment, kommen. Die Fallzahl der mit dem Coronavirus Infizierten muss so klein werden, dass die Gesundheitsämter und Behörden wieder dazu in der Lage sind, alle Fälle zu überblicken. Dann wäre man wieder bei den Schritten: Kranke isolieren, Kontakte ausfindig machen, diese ebenfalls isolieren, Sie kennen das. 

Dann würde wieder etwas Normalität einkehren und die Maßnahmen würden nur für die Erkrankten und deren Kontaktpersonen gelten. Doch zur Erinnerung: Damit das aufgeht, muss ein Infizierter im Schnitt weniger als eine andere Person anstecken. Daher seien die derzeitigen Maßnahmen weder „übertrieben“ noch “unnötig streng“, wie die Chemikerin betont. 

Trotz Corona-Krise: Wie Gesundheitssystem und Wirtschaft wieder gleichzeitig funktionieren

Die Frage lautet also: Wann ist es möglich, zu Phase 1 zurückzukehren? Um das zu veranschaulichen, trifft Nguyen-Kim die Annahme, dass ab unter 1.000 Corona-Fällen die Krankheit für die Ämter wieder zu handlen ist. Dabei orientiert sie sich an dem Zeitpunkt, als Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Empfehlung aussprach, Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Personen abzusagen. „Spätestens dann gab es offenbar ein Problem mit der Nachverfolgung der Fälle“, begründet die Wissenschaftlerin. 

Geht man also von 1.000 Fällen und einer Reproduktionszahl von 0,5 aus, würde es noch 56 Tage dauern, bis Deutschland wieder weniger als 1.000 Fälle hätte. Allerdings, betont Nguyen-Kim, ist eine Reproduktionszahl von 0,5 „volle Kanone“, das ist „Wuhan-style Lockdown“. Sie hebt auch hervor, dass dies natürlich nur ein Beispiel-Szenario ist. Klar ist aber auch: Kommen wir wieder zu Phase 1, ist die Epidemie noch lange nicht vorbei. Dies sei nur der Zustand, in dem sowohl Gesundheitssystem als auch die Wirtschaft funktionieren können.  

Corona-Krise endet erst mit einem Impfstoff

Wann also endet der Corona-Chaos? Zurück zum Anfang. In der Theorie ist alles vorbei, wenn eine Herdenimmunität von 60 bis 70 Prozent erreicht ist. In der Praxis ist das aber quasi nicht möglich. Eine derartige Herdenimmunität würde viel zu lange dauern, sodass entweder das Gesundheitssystem in die Knie geht oder aber die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen nicht ertragbar werden, weil es zu lange dauert. 

Das Fazit von Nguyen-Kim lautet daher: Nur ein Impfstoff kann die Epidemie beenden. Das heißt, dass wir so lange aushalten müssen, bis ein Impfstoff vorhanden ist. Laut Schätzungen ist dies aber erst im Frühjahr 2021 der Fall. So muss jetzt das Ziel sein, schnellstmöglich wieder zurück zu Phase 1 zu kommen, um in diesem Zustand so lange auszuharren, bis es einen Impfstoff für das Coronavirus gibt. Die Corona-Krise, sie geht jetzt erst richtig los. 

*fr.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.

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